Der goldene Hirsch und der wilde Rosenbusch oder eine Frau lernt tanzen

„… Sie genoss die Zeit. Die Zeit! Sie war kostbar. Jeder Augenblick war kostbar. Die junge Frau atmete tief ein. Sie spürte die frische Luft in ihren Lungen, wie sie sich im ganzen Körper ausbreitete. Sie spürte den warmen Luftzug auf ihrer Haut. Sie schmeckte die Luft. Es war ihr nie aufgefallen, das Luft schmecken konnte. So unterschiedlich! Die junge Frau schüttelte den Kopf. Ihr war so vieles nicht aufgefallen. So viele Winzigkeiten. Noch vor Wochen hätte sie nichts von dem bemerkt, was ihr jetzt das Herz klopfen ließ. Oder wenn, wäre es ihr belanglos erschienen. Jetzt waren diese Winzigkeiten spektakuläre Entdeckungen: Ameisen, die ihre Eier in den Bau schleppten, der Tau, der funkelte Perlenschnüre auf das Gras zauberte, Blüten, die in ihrem Inneren ein ganzes Universum zu beherbergen schienen. Wie reich und schön war die Welt!
Die junge Frau seufzte. Sie schlenderte jeden tag durch den Klinikpark und ihre Spaziergänge wurden immer ausgedehnter. Eines Morgens fand sie sich in einem entlegenen Winkel des Parkes wieder. Hier war sie noch nie gewesen. Rhododendronbüsche breiteten Schatten spendend ihre dunklen Blätter über den Kiesweg. Am Ende des Weges war ein Brunnen. Die junge Frau hielt ihre Hand in das kühlende Wasser. Plötzlich stand ein goldener Hirsch vor ihr. …“